Genie und Masse: Supertalent 08

Ich möchte im Folgenden etwas über "Deutschlands Supertalent" schreiben, weil ich denke, dass sich einiges aus diesem Sendeformat ableiten lässt. Dieses noble Vorhaben darf nicht vertuschen, dass ich viel zu oft "gute" Sender wie arte oder Phönix zugunsten von RTL und Sat1 verschmähe.
Nicht viel Fernsehen schaue ich, aber wenn, dann nur das Schlechteste vom Schlechten. Ich habe eine Neigung zum sog. Unterschichts-TV.
Der Begriff ist unglücklich gewählt, da nicht nur Deutschlands soziale "Unterschicht" diesen Sendungen frönt. Ich zum Beispiel kucke sie auch, und bin, laut dem neuen Titel meiner Universität, "Elite" und nicht "Unterschicht". Aber wie auch immer es um die begriffliche Klarheit bestellt sein mag, jeder weiß, was mit Unterschichts-TV gemeint ist.
Billige Shows auf MTV, Casting-Shows, Volkserziehungssendungen: Sie beglücken mich nach einem langen, stillen Tag über den Büchern, der angefüllt ist mit dem Rauschen der vielen nutzlosen Worte und der bibliothekären Klimaanlage.
Manchmal aber nehme ich das U-Fernsehen (und soviel muss zur Erhaltung meiner Würde gesagt werden) auch als einen Untersuchungsgegenstand wahr.
Eine diesbezügliche Referenz ist Siegfried Kracauer, der in "Das Ornament der Masse" die um 1900 sehr populären "Tillergirls" zum Gegenstand seiner soziologischen Betrachtungen macht. Die Bewegungsabläufe dieser präzise gleichförmig tanzenden Gruppe wurden ihm zum Spiegelbild der Masse, zum Massenornament. Ohne hier weiter auf Kracauer einzugehen lautet die relevante Grundmessage: Fakten und Wissenswertes über die Konstitution und Struktur der "Masse" (des Großteils des Volkes)lassen sich anhand ästhetischer Reflexe ablesen. Bezogen auf das Fernsehen heißt das: Man muss auf die Massenmedien schauen, um etwas über die Masse aussagen zu können.

Nun zum "Superstar".
Es ist den Menschen wichtig, nicht nur Teil der Masse, nicht nur ein Bein im Körper der "Tillergirls" zu sein. Eine Möglichkeit, etwas Herausragendes zu sein, ein Star, etwas Besonderes, wird vor allem durch das Internet geboten. Gerade Youtube rückt die Erfüllung des Traumes von weltweiter Berühmtheit in greifbare Nähe. Plötzlich wird man für einige Tage auf der ganzen Welt zum Tagesgespräch, weil man mit seinem Video einen Nerv getroffen hat. Das Gute daran: Diese Dynamik gehorcht (größtenteils) nicht den Gesetzen des Marktes, aber das ist ein anderes Thema und soll an anderer Stelle behandelt werden.

Das Fernsehen reitet natürlich auf dieser Welle mit, weswegen das Programm geflutet wird von Sendeformaten über "ganz normale Leute", Reality-Soaps und eben vor allen Dingen Casting-Shows. Diese beinhalten das größte Heilsversprechen des Fernsehens überhaupt. Jeder kann ein Star sein, lautet die Nachricht, und wenn er kein Talent hat, so wird er wenigstens von der Bild-Zeitung am nächsten Tag verwurstet.

Ich möchte nicht zu kulturpessimistisch klingen. Aber es ist offensichtlich kein langwährender Star-Status, den die Kandidaten genießen. Das zeigt die traurige Empirie. Insofern hat man es hier auf der ganzen Linie mit einem Vortäuschen zu tun: Die "Expertenmeinungen" von Bohlen und Co. werden vorgetäuscht, wie auch der Starrummel, der Fame.
Zusammenfassend kann man sagen, es ist schön, dass das Fernsehen verspricht: "Auch DU, Müllers Lieschen, kannst ein Star sein!" Allein, es ist ein falsches Versprechen. Es wird nicht eingehalten. Das Individuum fällt nach 3 Sekunden Weltruhm in die Masse zurück und ist wieder was es war, ein gesichtsloses Rädchen in der großen Maschinerie (klingt mega-marxistisch, weiß aber nicht, wie ich es anders formulieren soll).

Kommen wir endlich zum Thema! Also, "Superstar".
Kontext: Es ist kurz vor Weihnachten, die Finanzkrise streckt ihre garstigen Finger nach den Menschen aus, die ersten Jobkündigungen flattern in die Privathaushalte. Die Grundstimmung ist ungut, man hat Angst.
Da wird einem von "Superstar" suggeriert, dass man es nach wie vor zu etwas bringen kann, und zwar ausnahmslos jeder. Um die Pluralität der Chancengleichheit zu unterstreichen, wird im Finale das volle Programm aufgefahren. Da haben wir: den HIV-infizierten schwulen Opern-Sänger, den unzulänglich deutsch sprechenden Araber, den Hartz VI-Empfänger, die singenden Kinder, die alle mindestens ein Elternteil mit Migrationshintergrund besitzen.
Niemand kann mir erzählen, dass die Anrufer (die 2 Euro pro Minute zahlen) über diese Konstellation entschieden haben. Genauso wenig kann einer behaupten, dass nicht schon vorher feststand, dass Michael Hirte gewinnt (sein finales Konzert war definitiv einstudiert).
Und Bohlen freute sich wie ein Kind über das dicke Weihnachtsgeschäft, dass er mit Hirte (Hirte!!) einkassiert. Schließlich war die CD des "Mannes mit der Mundharmonika" schon 5 Tage später im Handel erhältlich.
Immer wieder wird während der Sendung vom Moderator betont, dass Hirte ein Mann von "ganz unten" sei. Und am Ende macht der Straßenmusiker mit Offenbarungseid das Rennen und das große Geld.
Somit ist diese Show Sozialkitsch der übelsten Sorte, ABER sie ist auch ein Spiegel unserer Gesellschaft, die tatsächlich so tolerant ist, dass Araber, Schwule und humpelnde Hartz-Vierer ins Finale kommen.
Problematisch ist der "götterlose mythologische Kultus" (Kracauer), dem in diesen Sendungen gehuldigt wird. Ich erinnere mich, dass einer der Kandidaten Dieter Bohlen ein "Ich liebe dich" von der Bühne her zuhauchte. Bohlen als Entscheidungsgewalt über "marktwerttauglich" oder nicht zäumt den Begriff des Geniekultes von hinten auf: Das Genie entwickelt sich nicht aus sich selbst heraus, sondern wird gemacht, fast schon industriell gefertigt.

In etwa denke ich folgendes: Nachdem die Masse erkannt worden war, und der Mensch in ihr immer mehr als seelenloser Körper mit ihr verschmolz, wurde ihr mit den Massenmedien im 20. Jahrhundert ein Spiegel vorgehalten. Mit diesem Blick kam auch das Bedürfnis nach Hervorhebung aus der Masse zurück, aber diese Hervorhebung wird von den Massenmedien produziert und gehorcht den schnellen Regeln des Marktes. Es entsteht ein Missverständnis, und zwar, dass es etwas Besonderes sei, im „Supertalent“ mitzumachen, dass es eine Kunst sei, dass es einen dauerhaft glücklich mache.
Dabei wird man, wie im Falle der Finalisten, nur von den Fernsehmachern eingespannt, um dem Volke kurz vor Weihnachten ein Gefühl sentimentaler Emotionalität zu verleihen.


Nachtrag: Nun, wo Michael Hirte kein ALG II mehr kriegt, wird er vor den BILD-Karren gespannt, der ihn zum Vorzeigearbeitslosen macht: Seht her, er verzichtet freiwillig auf staatliche Unterstützung! Nehmt euch ein Vorbild, ihr arbeitslosen Würmer dort draußen. Kein Wort davon, dass er auf die Gelder verzichten muss, bei dem Preisgeld. Lächerlich, meint auch Roberto de Lapuente.

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